02.10.2013

Am Seebergsee

Von Godi Huber
Es war ein heisser Sommertag, viele tausend Jahre vor heute. Die Sonne senkte sich auf ihrem Himmelsbogen, Wolkentürme wuchsen in die Höhe, weiss zuerst, danach grau, zuletzt schwarz. Der Tag wurde zur Nacht, der heisse Wind zum eiskalten Sturm. Hagelkörner, so gross wie Hühnereier, prasselten auf die saftigen Alpweiden, Tiere brüllten, Blitze leuchteten, Donner krachte. Ein riesiger Saurier, halb Vogel, halb Raubkatze, kreiste über den Bergen, nach Beute Ausschau haltend. Am Wildstrubel wurde das Ungeheuer von Blitzen getroffen. Die Schreie des Tieres übertönten den Sturm, verzweifelt versuchte es sich in der Luft zu halten. Über dem Simmental kam es zum Absturz.


Die Sonne spiegelt sich an diesem schönen Julitag im Sommer 2013 im dunklen Grün des Seebergsees, dahinter ein langgezogener Felsrücken; an den sonnigen Hängen mit Gras, Moos und Sträuchern bewachsen, düsteres Schwarz auf der steilen und schattigen Seite. Wir geniessen das Picknick am See.
Da ruft die kleine Anna: "Der Berg sieht aus wie ein Drachen!"
"Das ist ein Berg und kann deshalb kein Drachen sein", belehren wir Erwachsenen.
"Doch, das ist ein Drachen. Seht ihr den grossen Kopf, den Rücken, den langen Schwanz und die ausgestreckten Beine nicht?"
Wir liegen im Gras und lachen.

Der abgestürzte Flugsaurier blieb vor vielen tausend Jahren mit gebrochenen Flügeln liegen. Das Tier war nicht tot, wurde aber auch nie mehr richtig lebendig. Am Tag brannte die Sonne, prasselte Regen, deckten Schneeflocken den geschundenen Körper, der Jahr für Jahr mehr mit der Erde zusammenwuchs. In der Nacht schluchzte das Tier leise, auch dann, als es schon lange zu Stein geworden war. Die Tränen sammelten sich in einer Mulde. Die Pfütze wurde zum Teich, viele hundert Jahre später zum Bergsee, dem Seebergsee.

Anna badet im dunkelgrünen See.
"Das Wasser fühlt sich nicht wie gewöhnliches Wasser an", erzählt sie danach.
"Es ist ein besonderer See. Es gibt keinen Bach, der in den See hineinfliesst und aus dem See wegführt", erklärt der Wanderleiter. "Vermutlich sind der Zu- und Abfluss unterirdisch."
Da ruft Anna aufgeregt: "Jetzt hat der Drachen geblinzelt, ich habe es genau gesehen!"

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